11.11.10
Karneval in der Heimat – leider ist davon hier nichts zu spüren gewesen.
Auch an diesem Morgen wurden wir wieder vom Anblick Klebstoff-schnüffelnder Kids begrüßt.
Hier heißt es wortwörtlich: “Fressen oder Gefressen werden”.
Wer einige Tage in Kathmandu verbringt und sich heraustraut, erlebt und sieht neben all dem Touristenrummel auch die wahren Seiten.
Mittags entschlossen Thijs und ich uns das größte hinduistische Heiligtum in Nepal anzuschauen: Pashupatinath. Da der Name für Touristen schwierig zu merken ist, ist die Sehenswürdigkeit auch bekannt als “place, where they burn the dead bodies”. Und um es jetzt auch noch mit dem richtigen Fachbegriff zu bezeichnen: Damit ist das örtliche Krematorium gemeint.
Nach einer verwirrenden Rikscha- und anschließenden Taxi-Fahrt kamen wir schließlich am korrekten Platz an. Wir zahlten den für Touristen überteuerten Eintrittspreis und plötzlich scharten sich dutzende Tour-Guides um uns herum. Wir ließen uns von einem Angebot breit schlagen – was sich im Nachhinein als überaus nützlich herausstellte. So bekamen wir nämlich direkt zu Beginn eine versteckte Ecke mit mehreren Sadhus (“Holy Man”) zu sehen. Unser Guide erklärte uns, dass die Hauptaufgabe dieser heiligen Männer darin bestünde, von morgens bis abends zu kiffen und zu saufen, um eine gottgerechte Trance zu erreichen und beten zu können.
Schauen wir uns in dieser Tempelanlage einmal rechts den Sadhu an, fällt am linken Rand ein wenig Grünzeug auf.
Bei näherer Betrachtung ist ersichtlich, hier wird Hanf angebaut. Dies diene als Notfallreserve, falls mal kein “Gras” für die Sadhus organisiert werden könnte. Denn schließlich müssen die für das Beten höheren Sphären immer gewährleistet werden…
Auf dem restlichen Gelände konnten die Verbrennungsvorgänge Verstorbener in jeglicher Detailstufe mitverfolgt werden.
Fotos zu machen war hierbei ausdrücklich erwünscht. Während die Verbrennungsstätten für die Toten aufgebaut und diese schließlich dort aufgebahrt wurden, klagten die Familie etwas abseits. Das Verbrennungsritual wurde gestartet, indem dem Toten das Feuer in den Mund gelegt wurde. Nach einer Weile brannte schließlich die ganze Verbrennungsstätte lichterloh. Ob ich geschockt war? Natürlich! Es war wirklich ungewohnt diese Zeremonie zu verfolgen und einen brennenden Leichnam zu sehen. Hier wurde das Ganze in einer Routine durchgeführt und 24/7 Körper auf über einem Dutzend Verbrennungsstellen zur letzten Ruhe geleitet. Je größer das Feuer, desto glücklicher die Familie. Ein weiterer ungewohnter Punkt für mich: Während der Verbrennung kamen einige Leute dicht heran und machten Fotos mit ihren Handys, während im Hintergrund Zeitungen und Snacks verkauft wurden. Ich kann mich noch gut an meinen Klangschalen-Guru Kesh erinnern, welcher mir vor einigen Tagen voller Stolz die Verbrennungsfotos eines Freundes auf seinem Handy zeigte…
Um dem Ganzen jetzt noch die Krone aufzusetzen, erlebte ich noch etwas Unbeschreibliches – und damit war ich nicht (!) der Einzige: Mehr oder wenig fassungslos saßen wir da und verfolgten die Zeremonien. Plötzlich wunderte ich mich. War der Snack- und Tageszeitungsverkauf nicht genug, hat hier jetzt auch noch einer den Grill aufgebaut und grillt Würstchen? … … … … Na, was denkt ihr jetzt? Wie hättet ihr euch gefühlt? Die Erkenntnis woher der Barbecue-Geruch kam traf mich auf einen Schlag – ein definitiv unvergesslicher und surrealer Moment.
Während der Verbrennung streunerten die Helfer regelmäßig um die Verbrennungsstätte und “optimierten” die Feuer-Zeremonie. Tatsächlich aber, so wie uns unser Guide verriet, hielten sie Ausschau nach Gold und Schmuck. Der Tote wird nämlich zur letzten Ruhe in Abhängigkeit vom Reichtum der Familie sehr gut ausgestattet. Bei genauerer Betrachtung bestätigte sich diese Vermutung.
Wir spazierten weiter flussabwärts und hatten von einer Brücke einen schönen Überblick über den Fluss, in den alle Überreste gelangen, und die Verbrennungsstätten im Hintergrund. Es sind einige aktive Verbrennungen am aufsteigenden Rauch zu erkennen. Im Bild rechts unten zeigte sich aber noch etwas anderes:
Kinder, welche sich und ihre Kleidung in diesem Fluss wuschen sowie sich die Zähne putzten, während eine Frau weiter oben ein Neugeborenes stillte und ein weiteres Kleinkind herumkrabbelte. Ich glaube hierzu erübrigt sich eine weitere Beschreibung meinerseits…
Von den Kindern zu den Alten: Wir besuchten das angrenzende “Social Welfare Centre Briddhashram”-Altenheim. Von außen ganz nett anzusehen und…
…auch innen sind im Vorhof schöne Bauten zu beobachten. Unser Guide führte uns weiter in den hinteren Bereich…
…vorbei an der “Zentralküche”…
…bis hin zu den Wohnbauten der alten Leute. Auf dem Bild ist ein wenig der Alltag zu sehen. Unser Guide führte uns auch in die Unterkünfte, welche im Hintergrund zu sehen sind. … Hier offenbarte sich etwas nahezu Unbeschreibliches. Fotos habe ich aus Rücksicht keine gemacht – der Anblick hat sich jedoch in mein Gedächtnis eingebrannt. Auf schmalen Holzpritschen – ohne Matratze und ohne Laken – lagen die Alten mit weniger als einem halben Meter Abstand dicht an dicht nebeneinander. Die Räume waren überfüllt, einige lagen auf dem Boden. Es gab weder Dekoration an den Wänden noch Licht an der Decke. Stattdessen sah man den Tod herbeisehnende Menschen, hörte das schmerzhafte Klagen vieler und roch den beißenden Geruch der Verwesung. Auch wenn ich jetzt so daran zurück denke, dreht sich mir der Magen um – es war einfach unfassbar mit anzusehen.
Dafür, dass ich einen Einblick in diese Tragödie bekommen durfte, wollte ich gerne etwas für die Alten spenden. Unser Guide führte uns zum Leiter der Institution, welcher uns auch mehrfach auf die Spendenmöglichkeit hinwies. Aber irgendwas stimmte hier nicht. Zu sehr verstanden sich der Leiter und unser Guide. Zudem rebellierte mein Bauchgefühl heftig und ich verspürte, obwohl ich den Herrn nicht kannte, eine deutliche Antipathie. Glücklicherweise war mir noch die mehrfach gesicherte Spendenbox im Eingangsbereich in Erinnerung. Ich hatte mich noch über die eindeutige Beschriftung gewundert: “Please give donations only into this box and to nobody else! We assure to buy food! Don’t give money to anyone else!” Ich habe den Leiter auf die Spendenbox angesprochen. Ja, das wäre auch richtig und er würde das Geld direkt dafür verwenden. Warum ich das Geld dann nicht einfach selbst in die Box stecken könnte, fragte ich. Als der Leiter und unser Guide daraufhin nervöser wurden und mir versicherten, es wäre einfacher, das Spendengeld dem Leiter direkt zu geben, war die Sache wohl geklärt. “Don’t give money to anyone else” – der Hinweis ist wohl aus gutem Grund auf der Spendenbox angebracht. Ich bedachte den Leiter mit einem verachtenden Blick und begab mich aus seinem Büro. Während ich im Hintergrund seine Ehrlichkeits-Beteuerungen hörte, wurde im Vordergrund auf dem Vorhof gerade ein Toter abtransportiert.
Für wenige Minuten wurde der Tote hingelegt, so dass einige Alte Abschied nehmen konnten. Hier spricht der Tod wortwörtlich für eine Erlösung.
Beim Verlassen des Altenheims fiel mir noch die einzige Unterhaltungsmöglichkeit auf. Ein Fernseher, indem ein Guru zu sehen und mit immer den selben monotonen Worten zu hören war. Geistige Betäubung. Ich bedachte die Spendenbox, las noch einmal kopfschüttelnd das Warnschild, drehte mich um und betrachtete die Alten: Das ist wahrlich kein menschenwürdiger Abschied vom Leben.
Draußen kreuzten zwei alte, völlig überladene Frauen den Weg. Ein Leben lang wirklich hart arbeiten, um überhaupt zu überleben? Und dann mit Blick auf das Altenheim?
Für unsereins in privilegierten Gefilden kann ich nur sagen: Verschwendet nicht die Zeit mit Schwachsinn. Strebt und lebt das Leben sowie genießt die Zeit mit euren Lieben!
Von diesen Momenten in meinem Reisebericht die Kurve zu erfreulicheren Dingen zu bekommen ist nicht allzu einfach. Grübelnd gingen wir weiter. Nach einigen Gehminuten zeigte sich, das Spendengelder nicht nur veruntreut werden.
Freie Bildung – die wahre Lösung für grundlegende Probleme. Ein wenig Stolz ließ ich mich vor der mit deutschen Geldern unterstützten Schule ablichten. Na hoffentlich vergisst die heimische Regierung nicht, dass Bildung auch in Deutschland erschwinglich/realisierbar bleiben muss…
Unser Guide führte uns weiter durch mit Affen besetzte Tempelanlagen.
Entlang am Rande von Kathmandu…
…erreichten wir schließlich die Boudhanath-Stupa, eine der größten Stupas weltweit. Ich merkte noch immer die Sättigung buddhistischer Sehenswürdigkeiten durch meinen jüngsten Besuch in Tibet. Dennoch war es ein durchaus beeindruckendes Bauwerk.
Sichtlich erschöpft von den heutigen Eindrücken ging es durch den chaotischen Verkehr wieder zurück zur Unterkunft.
Anstatt von Straßenkindern zeigte sich vom Hoteldach-Restaurant, oberhalb der dröhnenden Hauptstadt, eine beeindruckende Skyline im Sonnenuntergang.
Abends ging es noch zu einem günstigen Restaurant und ich warf eines meiner grundlegendsten Prinzipien über Bord. Nach den heutigen Erfahrungen bin ich mir sicher, dass ich wirklich die volle Breitseite vom Leben kennenlernen will. Ein kleiner Schritt im Restaurant, ein großer Schritt für eine veränderte Denkweise: “Ich esse alles außer Lakritze” – vorbei. Im Bild sieht man mich mit einem Löffel Anis … und ich habe es drin behalten. 😉
Weiterführende Links:
- Pashupatinath – Tempelstätte zur Verehrung des Gott Shiva als Herr des Lebendigen
- Krematorium – Platz zur Einäscherung von “nicht-mehr-Lebendigen”
- Sadhus – Heilige Männer, welche das Kiffen zum Erreichen höherer Sphären nutzen
- Kiffen – Cannabis als Rauschmittel
- Hanf – Unter Biologen und in einschlägigen Kreisen auch als Cannabis bekannt
- 24/7 – Andere Bezeichnung für “rund um die Uhr”
- Barbecue – Eine beliebte Garmethode von Fleisch
- Surrealismus – Den begrenzen Erfahrungsbereich in das Absurde zu erweitern
- Antipathie – Spontane Abneigung gegen etwas
- Boudhanath-Stupa – Eine der weltgrößten Stupas
- Stupas – Buddhistisches Denkmal, welches Reliquien beinhaltet
Guter Bericht! Nur die Sache mit der Lakritze ist sehr schwach von dir. Du Lulli! Ich halte weiter die Gegen-Lakritz-Fahne hoch!
Welch ein interessanter aber auch erschütternder Bericht!!!
Wenn man solche Verhältnisse einmal persönlich erlebt, weiß
man unsere europäischen Verhältnisse umsomehr zu schätzen.
Diese Eindrücke werden Dich Dein Leben lang begleiten.
Gute und vor allem gesunde Weiterreise!!
Herzlichst
Erhard